Anninarra in 80 Jahren ist aus heutiger Sicht ein Hightech-Paradies, bevölkert und gestaltet von besseren Menschen. Umfassend informierte Bürger*innen entscheiden über alles, und sind sich weitgehend einig: fossile und atomare Energieträger sind verboten, und Kriege sind unmöglich geworden, weil keine*r mitmacht. So war es einfach, ABC-Waffen zu verbieten, und schließlich – zum Zeitpunkt des Romans – alle anderen auch, und alle militärischen Institutionen aufzulösen: materielle und Humanressourcen werden für Besseres gebraucht. Staaten existieren (deren Verfasstheit wird wird mit einem ‚Demokratie-Index‘ nur kursorisch angedeutet), aber ihre Rolle ist geschrumpft – Ausdruck und Organ der Einflussnahme durch Überzeugung ist der ‚Kreis der 1000, die Organisation der Kreativen und Mutigen‘ mit unklarer Legitimation.
Jede Gesellschaft braucht eine Rechtfertigung für ihre Ungleichheit. Wenn gesamtgesellschaftlich akzeptierte Erzählungen fehlen, die erklären und rechtfertigen, dass es Menschen gibt, die sehr viel besitzen und andere extrem wenig, kann das Zusammenleben nicht funktionieren (Thomas Piketty, Kapital und Ideologie 2019). Der göttliche Wille aus Feudalzeiten funktioniert schon lange nicht mehr, und in Anninarra hat auch das Heilsversprechen des Kapitalismus abgedankt, jede*r sei seines oder ihres Glückes Schmied*in. Wenn es aber nicht funktioniert, dass jeder Mensch, egal wie arm oder reich er geboren wurde, durch eigene Anstrengungen reich werden kann, sind andere Spielregeln, ist ein neuer – und hier globaler – Gesellschaftsvertrag erforderlich. In Anninarra hat sich die mangels Alternativen heute (2024) politisch wirkungslose Skepsis gegenüber dem kapitalistischen System durch gesetzt – Vernetzung, Transparenz und allgegenwärtige IT haben die Bürger*innen ermächtigt – es gibt keine privilegierten Wissensträger*innen mehr, ‚Preisbildungsmaschinen‘ dokumentieren lieferkettenweite Herstellungskosten, berechnen ‚Gewinn-Normen‘ und sorgen so für faire Preise. In der Folge dominieren Sozialunternehmen statt großer Konzerne. Gerade unter diesen Umständen fällt Ungleichheit noch mehr ins Auge, und die Antwort ist das Prinzip der freiwilligen ‚gleichmäßigen Ressourcenverteilung‘, das für alle ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen ermöglichen würde – wenn alle mitmachen. Die Bereitschaft ist global umfassend und der soziale Druck hoch, sich anzuschließen – nur kleine Gruppen von Privilegierten einerseits und Wiedergutmacher*innen andererseits (diese fordern Kompensation für Ungerechtigkeiten der Vergangenheit statt Gleichheit jetzt) widersetzen sich – und hier fängt die Story des Romans an.
Die beiden Gruppen sammeln und organisieren sich im Namen von Freiheit und Gerechtigkeit mitten im Welt-Restwaffenlager, zunächst gemeinsam gegen die Verbindlichkeit der Gleichverteilung, dann gegeneinander. Auch die Liebesbeziehung der antagonistischen Protagonisten kollabiert beim Rückfall in die alten Rollen. Es kommt wie es kommen muss: die sozialen, kulturellen, ökologischen und humanen Verheerung eines ungezügelten Kapitalismus brechen aus, bis die beiden Gemeinschaften im Kampf gegeneinander kollabieren. Die reumütigen Überlebenden werden von der postkapitalistischen Welt wieder aufgenommen, und die Liebe bricht sich auf Grundlage neuer Einsichten erneut Bahn. Fazit: weder ungezügelte Freiheit noch jakobinische Gerechtigkeit können Grundlage menschlichen Zusammenlebens sein: Freiheit braucht Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit braucht Gnade.
Die doppelte Story – auf der individuellen Ebene die Liebesgeschichte, auf der gesellschaftlichen der Systemkollaps des frisch auferstandenen (Mini-)Kapitalismus – wäre vielleicht trivial, wenn sie nicht vor dem Hintergrund der skizzierten neuen Weltgesellschaft spielen würde. So illustriert Anninarra aber auf eine ganz eigene und durchaus spannende Weise, dass es denkbare humanistische Alternativen zu den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart gibt, und dass bei deren Durchsetzung Technologie und Zivilgesellschaft heute noch kaum angedachte Rollen spielen können.